Garry Kasparov spricht über das sich rasch ändernde technologische Umfeld und die Bedeutung für den Erhalt der Demokratie.
Wir sind umgeben von Technologie. Unsere Geräte sind immer verbunden und immer eingeschaltet, genauso wie wir. Wir sehen morgens die Nachrichten auf unserem Smartphone an, hören Podcasts auf dem Weg zur Arbeit, verbringen den gesamten Arbeitstag vor dem Computerbildschirm und beenden den Tag schließlich mit dem neuesten Angeboten aus unseren Streaming-Diensten.
Das klingt nach einem schon lange bestehenden Ritual, was zeigt, wie schnell wir uns an neue Technologie gewöhnen und sie als selbstverständlich betrachten. Bis auf den Computer am Arbeitsplatz gab es die anderen Aktivitäten vor einigen Jahren kaum. Und das sind nur die Verbindungen, mit denen wir direkt interagieren. Bei unseren Telefonen, Autos und in unserem Zuhause werden zahlreiche Aktivitäten im Hintergrund durchgeführt, wodurch sogar verborgene Winkel in unserem Leben in Daten umgewandelt werden.
Es ist interessant, wie schnell wir uns an Dinge gewöhnen, die vor einer Generation vielleicht noch wie Science-Fiction gewirkt hätten. Im Hinblick auf die Zukunft sollten wir uns fragen, welche Auswirkungen es hätte, wenn diese gewohnten Abläufe bei Technologien passieren, die noch mehr auf uns persönlich zugeschnitten sind. Trotz der Allgegenwärtigkeit der digitalen Hilfsmittel in unserem Leben, beginnen viele neue Formen erst jetzt Fuß zu fassen und benötigen noch etwas Zeit, bis sie fest in unserer Routine integriert sind. Beispielsweise der virtuelle Assistent Alexa von Amazon. Fast alle der Millionen von zufriedenen Kunden des Geräts haben Erfahrungen gemacht mit unsinnigen Antworten auf einen Befehl, verkorksten Terminkalendern oder E-Mail-Nachrichten oder sogar unkontrolliertem Gelächter, über das viele Benutzer berichteten. Diese Pannen liefern unterhaltsame Anekdoten, was dazu führen kann, dass die Bedenken gegen das Überwachungspotenzial dieser Geräte (fälschlicherweise) geringer eingeschätzt wird.
Einer der sich am rasantesten entwickelnden Technologiebereiche ist die Erfassung und Analyse biometrischer Daten, über die ich in meinem letzten Beitrag geschrieben habe. Wie ich erwähnt hatte, sind Innovationen wie Gentests für den Heimgebrauch aufgrund des derzeitigen Forschungsstands noch nicht ganz zuverlässig. Jedoch führen Unternehmen und Behörden in den USA und anderen Ländern bereits biometrische Überwachungssysteme im großen Umfang ein, und diese Systeme werden einsatzbereit sein, sobald die entsprechende Technologie verfügbar ist. Meine zuvor geäußerten Bedenken über Privatsphäre von Personen verblassen im Vergleich zur Bedrohung, die von der großen (und kostbaren) Menge an zentral erfassten biometrischen Daten von Arbeitskräften und Bürgern ausgeht. Nur weil sich diese Technologien in einem frühen und häufig primitivem Entwicklungsstadium befinden, heißt nicht, dass wir zukünftige Gefahren abtun sollten. Wir sollten auf die Herausforderungen einer bevölkerungsweiten biometrischen Überwachung vorbereitet sein, bevor sie zur Realität wird.
Und weil wir schon bei Amazon sind, das Unternehmen hat kürzlich ein Smart-Armband patentiert, das die Bewegung der Hände einer Arbeitskraft überwachen kann. Das Gerät existiert nur als ein Entwurf und wird möglicherweise nie am Arbeitsplatz eingesetzt, aber die ethischen Gefahren, die davon ausgehen, sollten dennoch untersucht werden. Zusammen mit der Unternehmenskultur einer brutalen Effizienz in den Lagern von Amazon (sieben Mitarbeiter sind seit 2013 während der Arbeit gestorben), kann man sich leicht vorstellen, wie durch so ein Gerät die Ausbeutung gefördert wird, indem Arbeitskräfte zu unmenschlichen Produktivitätszahlen getrieben werden. Das erinnert an die Szenen in der Fabrik im Film „Modern Times“ mit Charlie Chaplin, in denen der Mensch ein Sklave der Maschine wird. Und wenn eine Maschine so genau nachverfolgen kann, wie eine Arbeit erledigt wird, sollte eigentlich die Maschine die Arbeit machen! Es ist besser von einem Roboter ersetzt zu werden, als wie einer behandelt zu werden.
Walmart, ein wichtiger Konkurrent, arbeitet derzeit an einem Audioüberwachungssystem, das die Unterhaltung zwischen Kassierer und Kunden mithören kann. Das System kann zur Bewertung der Leistung feststellen, wie effizient das Einpacken erfolgt, wie schnell die Schlange sich weiterbewegt und sogar worüber gesprochen wird. Derartige Entwicklungen verleihen Unternehmen eine unglaubliche Macht über ihre Mitarbeiter. Obwohl diese Hilfsmittel zur Steigerung der Produktivität so verwendet werden können, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber davon profitieren, kann sich daraus auch eine Schreckensvision entwickeln. Erlischt Ihr Recht auf Privatsphäre und Unabhängigkeit in dem Moment, in dem Sie Ihren Arbeitstag beginnen? Die Stressbelastung, die aus Wissen einer ständigen Beobachtung entsteht, ist schwer zu verstehen, zumindest für jemanden, der nicht in einem totalitären Staat gelebt hat, in dem diese Kontrolle an der Tagesordnung war.
Wir erleben einen ähnlichen Ausbau der Überwachung auf Regierungsebene, das bekannteste Beispiel liefert uns vielleicht China. Auch hier ist die eingesetzte Technologie noch etwas unentwickelt. Ein Journalist, der kürzlich die in Zentralchina liegende Stadt Zhengzhou besucht hat, konnte die von der Polizei genutzten Sonnenbrillen mit Gesichtserkennung ausprobieren und kam zu dem Schluss, dass sie letztendlich nicht sehr nützlich sind. Die Brille, die mit einer kleinen Kamera verbunden ist, die wiederum an einen Minicomputer angeschlossen ist, vergleicht Fotos von Personen mit den in einer Datenbank gespeicherten Bildern, Namen und nationalen ID-Nummern. Der Vorgang selbst ist noch schwerfällig, und zusammen mit der Tatsache, dass die Personen die Geräte verständlicherweise vermeiden, ist das Ergebnis insgesamt enttäuschend. Aber stellen Sie sich einmal vor, wozu kleine Verbesserungen bei Geschwindigkeit, Genauigkeit und Benutzerfreundlichkeit führen könnten. (Und das ist nicht nur auf Gesichter beschränkt. Die Polizei in vielen Ländern verwendet regelmäßig Scanner für Kfz-Kennzeichen, die automatisch jedes Auto in der Umgebung prüfen und registrieren.)
Wir müssen uns beispielsweise mit Fragen zur Eigentümerschaft auseinandersetzen. Arbeitgebern gehört die von den Arbeitnehmern auf dem Computer verrichtete Arbeit. Aber gehören ihnen auch die im Büro geführten Unterhaltungen? Biometrische Daten stellen die nächste Herausforderung im Kampf um Privatsphäre dar. Können Unternehmen begründen, dass sie Spracherkennungsdaten zur Überwachung der Mitarbeiter verwenden? Können Behörden Software zur Gesichtserkennung so verwenden, dass dadurch nicht Persönlichkeitsrechte verletzt werden? Wer hat Zugriff auf die Daten? Wie lange werden sie gespeichert und von wem?
Während wir die Antworten auf diese Fragen suchen, müssen wir realistisch betrachten, wozu Gesetze erlassen werden sollen und wozu nicht. Gesetze wie die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), die kürzlich in Europa in Kraft getreten ist und über die ich hier berichtet habe, sind zweifellos wichtig. Wenn der rechtliche Rahmen um eine Stufe auf die internationale Ebene gehoben wird, kann die Transparenz und Rechenschaftspflicht noch weiter verbessert werden. Gleichzeitig verändert sich das digitale Umfeld rasant, und es ist unmöglich, bei der Markteinführung jedes neuen Tools die Gesetze nachzubessern.
Über die entsprechenden Vorschriften hinaus ist es wichtig, eine starke internationale Zusammenarbeit basierend auf gemeinsamen Werten und Einrichtungen zu unterstützen, die als rechtliches und ethisches Vorbild dient. Stabile Bündnisse demokratischer Staaten sind das beste Bollwerk gegen autoritäre Regierungen, die normalerweise die Regierungen sind, die am wahrscheinlichsten digitale Tools zur Überwachung ihrer Bürger einsetzen, und vor allem durch diese Überwachung ihre Bürger verfolgen und unterdrücken.
Das einzig wirksame Mittel zur Bekämpfung dieser orwellschen Kontrolle, die für private Unternehmen und öffentliche Einrichtungen gleicherweise verlockend ist, ist die Stärkung demokratischer Regierungen und Einrichtungen. Die Struktur und die Verlautbarungen der internationalen Einrichtungen sollten das sich rasant ändernde technologische Umfeld sowie deren Bedeutung für den Erhalt der Demokratie reflektieren. Auf dem jüngsten Gipfel in Brüssel haben die NATO-Verbündeten eine neue Cyberspace-Einsatzzentrale eingerichtet, die das Cyber-Wissen der einzelnen Mitgliedstaaten zum gegenseitigen Schutz nutzen kann. Worte und Einsatzkommandos müssen sich im konkreten Handeln beweisen, wir werden daher sehen, ob dieser Schritt zu einer wesentlichen Änderung führt, er setzt jedoch hilfreiche Impulse. Es wurde gesagt, dass die demokratische Staaten der Welt gemeinsam die von Technologien ausgehenden Bedrohungen feststellen und zusammen sicherstellen möchten, dass durch Technologie die Freiheit, Innovation und Entwicklung der Menschen gefördert und nicht eingeschränkt werden soll.