Den Hass bekämpfen und die freie Meinungsäußerung retten

Garry Kasparov 1 Aug 2017

Wie das Internet die ohnehin schon heikle Balance zwischen der Regulierung verleumderischer Sprache und freier Meinungsäußerung verdeutlicht

Ein neues, im Juni in Deutschland verabschiedetes Gesetz verlangt von den Betreibern sozialer Medien unter Androhung von Strafen in Höhe von mindestens 5 Millionen bis zu 57 Millionen Dollar, Inhalte, die in die Kategorie Hass-Äußerung fallen, innerhalb von 24 Stunden zu löschen. Das Gesetz und die Kontroverse, die sich rasch darum herum entwickelte, haben danach viele wichtige Fragen auf die Tagesordnung gebracht, was Hass-Äußerungen ausmacht, wie freie Meinungsäußerung und Regulierung gegeneinander abzuwägen sind – wie auch die Frage nach der Rolle von Privatunternehmen und Behörden bei der Überwachung, um nur einige Gesichtspunkte zu benennen.

Die Frage nach der Kontrolle digitaler Inhalte gelangte bereits im Zuge der Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten im vergangenen Jahr in den Vordergrund, weshalb viele dieser Probleme bereits die öffentliche Debatte prägen. Deutschland nimmt aufgrund seiner besonderen Geschichte in der Frage der freien Meinungsäußerung eine ganz eigene Position ein, wodurch jeder Hass-Kommentar nach geschärften Maßstäben beurteilt wird. Da bereits strenge gesetzliche Regelungen gegen Hass-Äußerungen existieren, für die eine Strafe von bis zu 5 Jahren Gefängnis vorgesehen ist, könnte man das neue Gesetz für eine einfache Fortschreibung der schon bestehenden Rechtslage halten. Wir müssen uns jedoch zwei entscheidende Fragen stellen, um die ich mich in meinen monatlichen Blog-Beiträgen stets bemühe: Wie wird diese Fragestellung durch das Internet transformiert und wie sollen wir darauf reagieren?

Ein guter Ausgangspunkt für unsere Diskussion ist, wenn wir uns zunächst Klarheit darüber verschaffen, was überhaupt als Hass-Äußerung zu bewerten ist. Denn wenn wir uns nicht darüber einigen können, welche Arten von Äußerungen diese rote Linie überschreiten, dann dürfte es sehr schwer fallen, eine einheitliche gesetzliche Regelung zu finden. Das kürzlich in Deutschland beschlossene Gesetz dehnt die dort bereits außerhalb des Internets geltende Definition einfach auf die Welt der Facebooks, Twitters und YouTubes aus. Was als Äußerung in der Öffentlichkeit bereits als rechtswidrig bewertet wird, beispielsweise die Leugnung des Holocaust, die in einer Zeitschrift oder in den Fernsehnachrichten artikuliert würde, wäre als Post oder Kommentar im Internet nicht weniger inakzeptabel.

Es stellt sich damit ganz direkt das Problem, dass die nationalen Grenzen, innerhalb derer Deutschland die öffentliche Debatte gesetzlich regeln kann, in der Online-Welt nicht vorhanden sind. Ein Post, der in einem Land ohne strenge Gesetzgebung zu Hass-Äußerungen verfasst wurde, müsste in einem anderen aus dem Internet entfernt werden, wobei vernachlässigt wird, ob sich seine wahre Herkunft überhaupt ermitteln lässt. Und was soll man in der Online-Welt überhaupt unter „Herkunft“ verstehen? Die Staatszugehörigkeit oder aber der Wohnsitz desjenigen, der den Post verfasst hat? Der Standort des Servers, auf dem der Post sich befindet? Der Herkunftsstaat des Unternehmens, dem dieser Server gehört? Vielleicht verstehest Du jetzt besser, warum sich das Internet als ein solcher Segen für Anwälte erwiesen hat! Wünschen wir uns das wirklich für eine universelle Plattform, die aufgrund ihres Wesens sämtliche Staatsgrenzen aufhebt?

Sollte Deutschland tatsächlich in der Lage sein, ein ausreichendes Maß an Druck auf ein im Bereich der sozialen Medien tätiges Unternehmen auszuüben, um seine gesetzlichen Beschränkungen auch außerhalb Deutschlands durchzusetzen, wie stünde es dann um die Standards anderer, vor allem um jene autoritärer Nationen und Gruppen? Fundamentalistische Anhänger einiger Religionen dringen bereits auf ein Verbot von Bildern, auf denen Frauen in einer Art und Weise gekleidet sind, die von ihnen als anstößig empfunden wird. China würde seine Internet-Zensur gern auf die Namen von Dissidenten und auf Begriffe wie „Platz des Himmlischen Friedens“ auf das gesamte Internet ausdehnen. Die Überwachung der Begrenzungen für Hass-Äußerungen, die online erfolgen, gestaltet sich wesentlich schwieriger als die Kontrolle der nationalen Grenzen eines Staates.

Es liegt auf der Hand, welche Bedeutung das für unser zentrales Anliegen hat: Wie beeinflusst das Internet das ohnehin problematische Gleichgewicht zwischen der gesetzlichen Beschränkung von übler Nachrede und der Gewährung der freien Meinungsäußerung? Wir haben es also nicht nur mit Politik und Kultur eines einzelnen Landes zu tun, sondern mit einer globalisierten digitalen Sphäre, die Dutzende von Ethnien, Sprachen und Religionen miteinander in Kontakt bringt. Oftmals erzeugt die Konfrontation so vieler verschiedener Weltanschauungen heftige Dissonanzen. Wie lassen sich gesetzliche Regelungen finden, mit denen die einzelnen Menschen durch ihre Online-Erfahrungen zu neuen Perspektiven gelangen können, ohne dass allgemeingültige Konzepte „Wahr“ und „Falsch“ negiert werden?

Meiner Ansicht nach sollten wir in diesem Zusammenhang keine Relativierungen zulassen und nicht den Standpunkt beziehen, dass jeder Meinung derselbe Stellenwert beizumessen ist. Tatsächlich sind bestimmte Länder und Kulturen anderen bezüglich dessen voraus, was ich als „moralische Evolution“ bezeichne. Für die Gründerväter der Vereinigten Staaten hatte die Sklaverei nichts Amoralisches; heute empfinden wir diese Praktik als moralisch skandalös. Ich denke, dass andere Länder bei der Bewertung bestimmter Glaubenssysteme, die sie gegenwärtig befürworten, zu dem gleichen Urteil gelangen werden. Die umfassende Durchsetzung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte würde ein wahrhaft ideales Ziel vorgeben. Bis dahin aber sollten wir einen Weg für eine Koexistenz auf den Plattformen finden, auf denen so viele von uns gemeinsam unterwegs sind – was bedeutet, dass Regelungen getroffen werden müssen, die unsere am tiefsten verankerten Werte respektieren, ohne aber kulturelle Teilhabe und kulturelles Lernen zu hemmen.

Die Diskussion über den Inhalt von Hass-Äußerungen kann nicht von den praktischen Fragen ihrer Überwachung getrennt werden. Auch in diesem Punkt bietet die gegenwärtige Gesetzgebung keine befriedigende Antwort. Sie verlagert die Verantwortung von der Regierung hin zu den Tech-Unternehmen, die zu diesem Zweck entweder Unternehmenseinheiten mit einer großen Anzahl von Mitarbeitern aufbauen oder aber von Menschen trainierte Algorithmen entwickeln müssen, die die Entscheidungen treffen können. Einige Fälle sind einfach gelagert; Ausnahmen gibt es dort, wo sowohl technische als auch ethische Schwierigkeiten entstehen.

Ein Mensch aus dem Westen könnte denken, dass das Hakenkreuz einen unkomplizierten Fall darstellt, der mit einem Bildvergleich-Algorithmus leicht aufzuspüren wäre. In 95 % der Fälle mag das zutreffen – das verhasste Nazisymbol ist in Asien aber auch heute noch als ein buddhistisches, hinduistisches und taoistisches Symbol recht verbreitet, besonders in Indien, Nepal, Sri Lanka und China, wo seine traditionelle und religiöse Verwendung weit vor die Zeit des Nationalsozialismus‘ – und Deutschland als Staat – zurückreicht. Ein gebildeter Mensch kann zwischen den Hakenkreuzen bei einer neofaschistischen Demonstration in Hamburg und einem Mosaik in einem indischen Tempel unterscheiden – ist eine Maschine dazu aber ebenfalls in der Lage? Wie so oft ist der Kontext entscheidend und genau damit sind die Maschinen überfordert, da sie nur über ihren Datenbestand und ein strenges Regelwerk verfügen. Der Kontext lässt sich für die Maschine erweitern, indem man ihr noch mehr Daten zur Verfügung stellt, besonders solche über den Verfasser des Posts, allerdings begeben wir uns damit bereits in die Zwickmühlen des Datenschutzes. Wie viele Informationen werden wir dann wohl einem Unternehmen oder einer Regierung überlassen müssen, um gegenüber einem Algorithmus unsere Unschuld zu beweisen?

Aber schon der Volksmund sagt es uns: Der Teufel steckt im Detail. Menschen und Computer werden noch intensiver daran arbeiten müssen, um Kontext, Absicht und Wirkung zu erkennen. Wie werden die Richtlinien aussehen, die Tech-Unternehmen für ihre Mitarbeiter entwickeln, deren Aufgabe im Aufspüren und Löschen von Inhalten besteht? Mit welchen Algorithmen werden die Unternehmen die Künstliche Intelligenz ausstatten, deren Aufgabe darin bestehen wird, rufschädigendes Material zu entfernen? Inwiefern können wir als besorgte Bürger sicher sein, dass innerhalb dieses Prozesses unsere Werte in die Mechanismen einbezogen werden, die unsere öffentliche Debatte bestimmen werden?

Auch dieses Mal möchte ich nicht so tun, als wäre ich im Besitz der idealen Lösung und ich behaupte nicht einmal, dass eine derartige Lösung überhaupt existiert. Die Definition von Hass-Äußerungen, ihre Überwachung und ihre Kontrolle (und selbst die Frage, ob dies wünschenswert ist), stellen ein enorm kompliziertes Unterfangen dar. Meine Absicht ist, die Parameter für eine informierte Diskussion zu umreißen, was ich mit den vorangehend gestellten Fragen hoffentlich erreicht habe. Das Fernziel besteht darin, bei der Umsetzung unserer Ideale weiter voranzukommen, wobei einzugestehen ist, dass wir eine perfekte Lösung nie werden erreichen können.

Ich muss an dieser Stelle angesichts meiner eigenen Erfahrung mit repressiven Regierungen auch einige warnende Worte aussprechen. Die Trennlinie zwischen dem Verbot von Verleumdung und umfassender Zensur wird leicht überschritten. Beim Abwägen zwischen freier Meinungsäußerung und einer geregelten Überwachung sollten wir uns stets bewusst sein, dass autoritäre Regierungen Restriktionen, die in der freien Welt in guter Absicht eingeführt wurden, missbrauchen können und werden. In Russlands berüchtigtem Gesetz gegen homosexuelle Propaganda wird beispielsweise jede Äußerung verboten, die „homosexuelles Verhalten gegenüber Minderjährigen gutheißt“, was ebenfalls für politische Verfolgungsmaßnahmen missbraucht wurde. Ein derart umfassendes und vages Verbot bedeutet, dass die Umsetzung ganz bei der vom Kreml kontrollierten gesetzgebenden Versammlung liegt, die sich willkürlich Fälle herauspicken und diese dann zur Anklage bringen kann. Das ist eine einfache und bequeme Möglichkeit, alle nicht-traditionellen oder abweichenden Stimmen zum Schweigen zu bringen, die das Regime bedrohen.

Genauso können Gesetze gegen „Extremismus“ überall dort als gute Idee erscheinen, wo radikalisierte Teile der Bevölkerung Hass-Propaganda verbreiten und zu Gewalt aufrufen. Aber in Russland und andernorts, wo man gegen autoritäre Regime ankämpft, wird jegliche Opposition gegen die Regierung schnell als extremistisch verunglimpft und verboten, egal ob es sich dabei um Flugblätter, Demonstrationen oder Websites handelt, und Verhaftungen folgen dem gewöhnlich auf dem Fuße. Es trifft zu, dass auch Demokratien nicht immun gegen den Missbrauch derartiger Gesetze sind, aber zumindest verfügen sie über Abwehrmöglichkeiten wie politische Einflussnahme und Debatten sowie über freie Medien.

Juristische Sprachregelungen, mit denen versucht wird, Hassäußerungen gesetzlich zu definieren, stellen keine echte Lösung dar. Stattdessen sollten wir uns um eine großzügige Formulierung bemühen, die unsere Grundprinzipien enthält, und sich durch zynische Regime wesentlich schwerer unterwandern lässt sowie den Spielraum für freie Meinungsäußerung und individuelle Freiheit so weit gesteckt wie möglich definiert – damit die freie Welt auch frei bleibt. Unser wirksamster Schutz gegen tatsächliche Hassäußerungen besteht darin, unter Beibehaltung der für die menschliche Entwicklung unabdingbaren freien Meinungsäußerung den von uns online und offline gewünschten moralischen Rahmen der Gesellschaft zu definieren und zu verfeinern. Was genau wo und wann gesagt werden darf, wird natürlich immer Gegenstand von Auseinandersetzungen bleiben. Es ist aber weniger tragisch, wenn der Teufel sich zwar im Detail verbirgt, das große Ganze aber von den Engeln gestaltet wird.

 

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