Frauen in der IT: Die bahnbrechende Karriere der Videospielpionierin Carol Shaw

Emma McGowan 21 Mär 2023

Shaw ist eine Galionsfigur für die Geschichte der Frauen in der IT, die den Weg für viele weitere große Spieleentwicklerinnen geebnet hat. 

Sind Sie schon einmal mit dem Düsenjäger den „River of No Return“ entlang geflogen, um feindliche Tanks, Hubschrauber, Jets und Brücken in die Luft zu jagen? Dann ist Ihnen die Videospielpionierin Carol Shaw sicher ein Begriff.

Shaw ist Designerin und Programmiererin des Game-Klassikers River Raid, das 1982 von Activision für die gute alte Atari 2600-Videospielkonsole herausgegeben wurde. Shaws Spiel verkaufte sich, nicht zuletzt dank seiner Komplexität, seiner Grafik und natürlich seines Spielspaßes, mehr als eine Million Mal. Von Kritikern wurde es als eines der besten Spiele für die Atari 2600 gelobt.

Dies war nur einer der vielen Erfolge, die Shaw während ihrer relativ kurzen, aber historisch bedeutsamen Karriere im Bereich Videospiele und Computerprogrammierung für sich verzeichnen konnte. Laut dem Centre for Computing History ist Shaw, die 1978 bei Atari als Software-Entwicklerin für Mikroprozessoren anfing, die erste Videospiel-Designerin und Programmiererin überhaupt.

Damit geht sie als Galionsfigur in die Geschichte der Frauen in der IT ein, die den Weg für viele weitere große Spieleentwicklerinnen geebnet hat.

Aufgewachsen mit IT

Shaw, Jahrgang 1955, besuchte die University of California, Berkeley, und schloss ihr Studium 1977 mit einem Bachelor in Elektrotechnik und Informatik ab. Auch ihren Master-Abschluss machte sie in Berkeley.

River Raid war nicht das einzige Videospiel, das Shaw bei Atari programmierte. So spielte sie eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung von Atari 2600-Klassikern wie 3D Tic-Tac-Toe und Video Checkers. Sie arbeitete auch an der Atari 2600-Version des Arcade-Spiels Super Breakout mit und half bei der Adaption des klassischen Brettspiels Othello.

Während Shaws Karriere stellte Atari mit der Atari 8-Bit-Reihe sein Geschäftsmodell auf Heimcomputer um. Sie schrieb das BASIC-Referenzhandbuch für diese Computer und entwickelte auch die programmierbare Taschenrechneranwendung, die Atari 1979 für diese Computer herausgab.

In einem Interview mit Vintage Computing and Gaming aus dem Jahr 2011 erklärte Shaw, dass ihr Interesse an Videospielen und Computern auf ihr Elternhaus zurückzuführen sei. Sie sei in einem Elternhaus aufgewachsen, in dem Technik groß geschrieben wurde, sagte sie dem Interviewer Benji Edwards. Und in der Schule glänzte sie in Mathe. Eine Karriere als Informatikerin und im Programmiererin war Shaw damit sozusagen in die Wiege gelegt.

Aber das war in den 1970er Jahren, als es noch nicht viele Frauen in technischen Berufen gab. Shaw ließ sich davon nicht abhalten.

„Ich nahm an einer Reihe von Mathematikwettbewerben teil und gewann einige Preise“, erklärte sie während des Interviews. „Natürlich hieß es dann: ‚Mensch, für ein Mädchen bist du gut in Mathe.‘ Das hat mich ziemlich geärgert. Warum sollten Mädchen denn nicht gut in Mathe sein?“

Die Geburt von River Raid

Shaw verließ Atari schließlich im Jahr 1980 und nahm eine Stelle bei Tandem Computers an. Aber erst zwei Jahre später, als sie zum Spieleentwickler Activision wechselte, feierte sie ihren größten Erfolg in der Videospielbranche.

Denn dort designte und entwickelte sie River Raid, eines der erfolgreichsten Heimvideospiele der 1980er Jahre. Das Spiel verkaufte sich mehr als eine Million Mal und bot für die 1980er Jahre ein fortschrittliches Gameplay und eine aufwändige Grafik, insbesondere wenn man bedenkt, wie viele Informationen Shaw in eine Cartridge packen musste, die auf der relativ leistungsschwachen Atari 2600 laufen würde.

Folgendes sollte man bedenken: Vielen der für die Atari 2600 entwickelten Spiele mangelte es an einer glaubwürdigen Darstellung. Die Spielfiguren des ersten Football-Videospiels von Atari sahen zum Beispiel eher wie Mülleimer mit Augen aus und nicht wie echte Runningbacks und Linebackers von der NFL. Auch die 2600er-Version von Pac-Man wurde noch belächelt, weil die Geister gelegentlich vom Bildschirm verschwanden und die „Punkte“ eher wie Striche aussahen.

Aber River Raid? Die Flugzeuge, Hubschrauber, Brücken, Treibstofftanks und Schiffe sahen wie ihre realen Gegenstücke aus – oder zumindest so realistisch, wie es für Entwickler auf der 2600 eben möglich war. Das Spiel erhielt mehrere Branchenauszeichnungen. Unter anderem wurde es vom Magazin Electronic Games als bestes Action-Videospiel bei den Arkie Awards 1984 ausgezeichnet.

Der Erfolg von River Raid kam daher nicht überraschend. Auch andere Spielsystem-Betreiber wurden darauf aufmerksam und so entwickelte Shaw Versionen ihres Klassikers für den Atari 2600-Konkurrenten Intellivision und für das Atari-8-Bit-Computersystem.

Durch ihre Arbeit an diesem Spiel und anderen Projekten wurde sie als erste Spieleentwicklerin in die Academy of Interactive Arts and Science Hall of Fame aufgenommen wurde. 2017 wurde sie von The Game Awards mit dem Industry Icon Award geehrt.

Ein ungewöhnlicher Auftrag

Einer der merkwürdigsten Momente in Shaws Karriere ereignete sich im Jahr 1978. Damals wurde sie von Atari gebeten, ein Videospiel zu entwerfen, das auf Polo basiert, einer Mannschaftssportart, bei der Reiter auf Pferden mit langen Holzschlägern Tore gegeneinander schießen.

So weit, so gut. Das Merkwürdige war, dass das Spiel die Markteinführung des neuen Herrenparfums Polo des Modedesigners Ralph Lauren begleiten sollte. Der Hintergrund dafür war, dass sowohl Atari als auch Ralph Lauren damals Warner Communications gehörten. Warner wollte in einem großen Kaufhaus in New York City eine Ausstellung gestalten, bei mit das Polo-Parfüm neben Atari 2600-Konsolen mit dem Polo-Spiel von Shaw beworben werden sollte.

Das Spiel war für sie eine weitere Herausforderung. Denn nach wie vor war die Atari 2600 nicht für eine so komplexe Adaption einer Sportart ausgelegt. Doch Shaws Ergebnis war beeindruckend, da sind sich die Kritiker einig. Lange beschäftigte sie sich sowohl mit Polo als auch mit Physik, um das Spiel so realistisch wie möglich zu designen, so ROMchip. Dazu gehörte auch die Programmierung authentischer Flug- und Schlagbewegungen für den Poloball.

Leider änderte Warner seine Pläne: Das Spiel wurde nie veröffentlicht und das Polo-Parfüm machte sein Debüt ohne Begleitspiel. Doch damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Shaw überließ die Originalversion des Read-Only-Speicherchips und den gedruckten Quellcode 2017 dem Strong National Museum of Play in Rochester, New York.

Fans veröffentlichten das Spiel 1996 als Bonus auf der CD-ROM „Stella Gets a New Brain“, einer Compact Disc mit 13 Videospielen. Für Fans der Atari 2600 ist Shaws Polo-Spiel also inzwischen spielbar. Dabei erlebt man sozusagen ein Stück Zeitgeschichte: Polo ist als erstes Videospiel dokumentiert, das von einer Frau konzipiert und programmiert wurde.

Shaw programmierte auch das von Kritikern gelobte Spiel Happy Trails für die Intellivision, eine der größten Konkurrenzkonsolen der Atari 2600. Das war 1983, als sie für Activision arbeitete. In diesem Spiel mit Western-Szenario führen die Spieler ihre Charaktere durch ein durchbrochenes Labyrinth, um Goldstücke zu sammeln und dabei dem Gegner Black Bart mit dem großen Hut auszuweichen.

Auch dieses Rätselspiel erhielt begeisterte Kritiken, und das Magazin JoyStik bewertete es mit fünf von fünf Sternen. Spieler, die eine Punktzahl von 40.000 oder mehr erreichten, erhielten ein Activision Trailblazers-Emblem, wenn sie ein Foto ihres Bildschirms mit der Punktzahl an das Unternehmen schickten.

Trotz ihrer Erfolge war Shaws Karriere in der Videospielbranche nur von kurzer Dauer. 1984 gab sie die Spieleentwicklung auf. 1990 ging sie bei Tandem Computers in den Ruhestand, wo sie als Assembler-Programmiererin gearbeitet hatte. Laut Shaw ist es River Raid zu verdanken, dass sie sich vorzeitig zur Ruhe setzen konnte, da ihr der Erfolg des Spiels das dafür nötige finanzielle Polster bot.

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